
Es ist mir, als wäre es erst gestern gewesen – dabei war es mitten in Corona 2020: Die Schweiz war in orange Fahnen gekleidet und diskutierte darüber, ob Konzerne mit dem Sitz in der Schweiz für Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden, die sie im Ausland verursachen, geradestehen sollen. Die Initiative fand breite Unterstützung und scheiterte nur am Ständemehr. Ich erinnere mich noch gut an das Argument der Gegner der Initiative, dass die Schweiz hier nicht vorangehen müsse, sondern lieber international abgestimmt agiere, also auf die anderen Länder warte.
Während die Schweiz untätig blieb, hat die EU vor wenigen Wochen eine Konzernverantwortungsrichtlinie (Corporate Sustainability Due Diligence Directive, CSDDD) verabschiedet, die schon in zwei Jahren Unternehmen verbindlich in die Pflicht nehmen wird und in einigen Punkten sogar weitergeht als die Konzernverantwortungsinitiative. Die Diskussion bekommt also neuen Aufwind. Es ist Zeit, dass die Schweiz nachzieht und eine eigene, verbindliche Regelung einführt.
Die neue europäische Konzernverantwortungsrichtlinie verpflichtet grosse Unternehmen ab 1000 Mitarbeitenden und einem Umsatz von 450 Millionen Euro, Menschenrechte und Umweltstandards in ihren Geschäftsprozessen einzuhalten. Die EU geht also mit gutem Beispiel voran und schafft eine Grundlage, die sicherstellt, dass wirtschaftlicher Erfolg nicht auf Kosten von Menschen und Umwelt geht. Auch die Wirtschaft trägt die Richtlinie mit: Unternehmen wie H&M, Lidl, Unilever und Bayer haben sich für die Richtlinie eingesetzt. Die breite Unterstützung aus der Wirtschaft zeigt, dass verantwortungsvolles Wirtschaften nicht nur moralisch richtig, sondern auch wirtschaftlich tragfähig ist.
Mit diesem Entscheid der EU droht der Schweiz, das letzte Land in Europa ohne Konzernverantwortung zu werden. In dieser Entwicklung darf sie aber nicht zurückfallen. Wenn die Schweiz keine eigenen Regeln zur Konzernverantwortung einführt, riskieren wir, dass unsere Unternehmen im internationalen Vergleich an Reputation und Vertrauen verlieren, die Schweiz gar zu einem Umgehungsstandort für Firmen mit undurchsichtigen Geschäften wird. Dies zum Leid der Tausenden von Firmen in der Schweiz, die bereits heute viel Energie und Ressourcen aufwenden, um auch im globalen Markt nachhaltig zu wirtschaften. Eine einheitliche Gesetzgebung würde nämlich für die dringend nötige Rechtssicherheit sorgen, auf die viele Unternehmen hoffen, die sich bereits positiv für einen Nachvollzug ausgesprochen haben.
«Verantwortung für Unternehmen ist kein bürokratisches Monster, sondern ein notwendiger Schritt zu mehr Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit.»
Luana Bergamin, Grossrätin (Mitte, GR) und Unternehmerin
Unternehmen tragen eine moralische Verantwortung, das ist meine Überzeugung. Fälle von Kinderarbeit in der Schokoladenproduktion oder sklavenähnlichen Zuständen auf Kaffeeplantagen, die grosse Schweizer Konzerne betreffen, sind ein Skandal. Diese einzelnen dubiosen Konzerne sollen nicht länger auf Kosten der Schwächsten in der globalen Lieferkette prosperieren. Und sie schaden dem guten Ruf der Schweizer Wirtschaft. Verantwortung zu übernehmen, bedeutet auch, langfristig nachhaltig zu wirtschaften. Nachhaltigkeit ist kein Trend, sondern eine Notwendigkeit, um den Planeten für kommende Generationen zu bewahren.
Gemeinsam mit über 150 bürgerlichen Politikern sowie zahlreichen Unternehmern aus der Schweiz habe ich deshalb den «Appell für Konzernverantwortung im internationalen Gleichschritt» unterzeichnet. Die Schweiz darf nicht das einzige Land in Europa ohne klare Konzernverantwortungsregeln bleiben. Gleichzeitig soll das Argument, das damals zur knappen Ablehnung geführt hat, nun auch eingelöst werden: eine international abgestimmte Lösung. Verantwortung für Unternehmen ist kein bürokratisches Monster, sondern ein notwendiger Schritt zu mehr Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in der globalisierten Wirtschaft. Die Schweiz hat die Chance, ihrer Tradition zu folgen und ein Vorbild zu sein. Sie kann zeigen, dass wirtschaftlicher Erfolg und ethische Verantwortung Hand in Hand gehen können. Es liegt an uns, Weichen für eine faire und nachhaltige Zukunft zu stellen. Die Zeit für eine verbindliche Konzernverantwortung in der Schweiz ist jetzt.
LUANA BERGAMIN aus der Lenzerheide ist Grossrätin (Mitte). Sie betreibt die Agentur Bergamin SportConceptions.
Dieser Text erschien als Gastkommentar im Bündner Tagblatt vom 1. Juli 2024.